Tod – und Verklärung? Die Symphoniker stimmen in Hof, passend zu den aufgewühlten Zeitläuften, Musik über die letzten Dinge an. Vor allem mit Werken von Richard Strauss führt Dirigent Hermann Bäumer das Orchester eindrucksvoll übers Lebensende hinaus zu Ahnungen jenseitigen Friedens. Hermann Bäumer vor den Symphonikern bei ihrem Hofer Konzert am Freitag: In Zeiten des Krieges Musik über Zeiten des Krieges. (Foto: Hofer Symphoniker)
Von Michael Thumser
Hof, 24. Oktober – „Ist dies etwa der Tod?“, lässt der 84-jährige Richard Strauss die Interpretin des letzten seiner „Vier letzten Lieder“ singen, „wandermüd“, „im Abendrot“. Etwa – und: ein Fragezeichen; denn was und wie er ist, der Tod, kann niemand wissen, der noch lebt. Der keineswegs nur pessimistische Philosoph Arthur Schopenhauer hielt ihn für einen „inspirierenden Genius“: „Schwerlich würde ohne den Tod philosophiert werden.“ Und schwerlich gedichtet, gemalt – komponiert. Ganz ähnlich hatte zuvor schon Wolfgang Amadeus Mozart gedacht: Er, dem beschieden war, sehr jung zu sterben, war mit 31 Jahren doch altersweise genug, um im Tod einen „der besten Freunde des Menschen“ zu erblicken, mehr noch: „den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit“.
In Zeiten des Krieges, da in der Ukraine und im Heiligen Land hundertfach gelitten und gestorben wird, eröffneten die Symphoniker ihr zweites Hofer Konzert am Freitag mit Musik über Zeiten des Krieges; genauer: mit mythologischer Musik von Mozart und Strauss über Zeiten, da der Trojanische Krieg gerade vorüber ist. In den beiden Instrumentalstücken aus Opern breitet sich folglich die Freude am Frieden aus, in Mozarts Ballettmusik vom Schluss seiner Oper „Idomeneo“ sogar als Triumph. Nur um einen gewonnenen Krieg kann es sich hier handeln, so kraftvoll, wie das Orchester im Festsaal der Freiheitshalle gleich in den ersten Takten mit der Tür ins Haus fällt, frisch und munter wie der helle Tag. Zwar, auch verhaltenere Passagen naiver Beschaulichkeit schiebt Hermann Bäumer als conductor in residence ein, auch heftigere Reminiszenzen an vergangenes Unheil. Doch einer Stimmung der Dankbarkeit, entronnen zu sein, räumt er entschieden den Vorrang ein und ballt sie zur Strahlkraft eines ungebrochenen Maestoso, das er eine begeistert abschließende Schnellstrecke hindurch ans euphorische Ziel treibt.
Traumphasen
Mit „Divertissement“ ist dies Ballett überschrieben und auch so gemeint: als Zeitvertreib, Unterhaltungsmusik zur Zerstreuung. Weitaus substanzieller und nuancierter hat Richard Strauss in seiner (kaum je aufgeführten) Oper „Die Ägyptische Helena“ die posttrojanische Nachkriegszeit ins Innerliche übertragen, zumindest in der schillernden Orchester-„Fantasie“, die Karl Anton Rickenbacher aus Kernelementen des ersten Akts erarbeitet hat. Nicht nach Art eines ‚kleinen Querschnitts‘ durch das Bühnendrama rollt Hermann Bäumer dies Kondensat aus, schon gar nicht als Vokalmusik ohne Vokalisten; vielmehr entwickelt er daraus eine eigenständige symphonische Dichtung von hohem emotionalem Flair.
Mit beängstigendem Gewaltgetöse beginnt sie, worauf der Solo-Oboist, gleichsam auf den Leibern der Gefallenen, ein trostloses Lamento anstimmt. Bald aber dehnen die Musikerinnen und Musiker den spätestromantischen Vollton – mit zwei Harfen – über eine beeindruckend breite Farbpalette hinweg aus, um in Traumphasen schwelgerischer Ruhe einzumünden. Deutliche Themen bemänteln in subtiler Harmonik die kleinasiatisch-orientalische Handlung mit einem gehobenen österreichischen Idiom, das an Strauss’ „Rosenkavalier“ und seine „Ariadne“ erinnert, wenn auch zu einer Vielfalt gravierender Empfindungen intensiviert. Alle oberflächliche Äußerlichkeit, die zuvor Mozarts Tanz-Stück vorantrieb, nimmt der Dirigent zugunsten einer suggestiven Magie zurück, der zuliebe er in der Schlussepisode jede Übertreibung unterbindet. Wahrlich lyrische Musik gelingt den Symphonikern: ein Ton-Poem.
Flacher Puls, stockender Atem
Dem entspricht, weit treffender als die Lustbarkeit aus dem „Idomeneo“, Mozarts „Maurerische Trauermusik“. Während weniger Minuten der Betrübnis leitet das Orchester mit ihr schwermütig in den zweiten Teil des Konzertabends hinüber, im Gestus still gramgebeugt, gelegentlich scharf in den Klageklängen, doch auch mit Aufhellungen, Erleuchtungen. Mithin vermählen sich schon hier „Tod und Verklärung“ unauflöslich, wie sie es an- und abschließend in der gleichnamigen Tondichtung des 25-jährigen Richard Strauss noch drängender tun. Letzte, peinsame Momente eines endenden Lebens gilt es in jenem chef d’œuvre des Programms zu schildern, aber ebenso den Aufstieg in ein Elysium. Ersterbend flach hält der Dirigent den Puls des Orchesters zunächst, mehr stockend als tief lässt er den imaginierten Sterbenskranken todmatte Atemzüge schöpfen. In Wehmutsweisen mischen die Instrumentalisten lichte Momente schmelzenden Sentiments, umgekehrt senken sie Fiebertraumfetzen und Glückssekunden in Dumpfheit zurück; bis rigorose Klangattacken die Qual der Krampf- und Schmerzanfälle auf die Spitze treiben. Immer weltverlorener aber eröffnen sich, wie in einem Abendrot, phantasmagorische Inseln der Beseligung …
Die heikle Aufgabe, jenseits drohender Abgeschmacktheit in der formidablen Komposition das Gleichgewicht von Panik, Pathos und Apotheose zu halten, löst Bäumer grandios – wofür nach den letzten Takten sowohl das Stillschweigen des Publikums in gefangener Ergriffenheit als auch der dann jubelnd ausbrechende Beifall spricht –; schlüssig hat Bäumer die orchestralen Massen komprimiert und ebenso verstanden, sie in aller Wucht und Verve transparent zu halten. So lang es irgend geht, erlaubt er dem dünnen Lebensfaden nicht, zu reißen; der überdauert, aller Schwäche ungeachtet, zumal in konstanten Tiefen von Bässen und Blech, Harfen, Gong, bis er sich endlich befreien darf. Dann löst das Orchester die Verstrickung von Not und Tod und Hoffnung in einen Hymnus an das Leben auf, ans Licht: Vielleicht scheint die Sonne des Friedens in einer posttraumatischen Nachkriegszeit über den Kampfgebieten irgendwann wieder; vielleicht scheint sie im Jenseits ja auch.